20.11.2018
Mit Univ.-Prof. Dr.-Ing. Fritz Busch, Lehrstuhl für Verkehrstechnik in der Ingenieurfakultät Bau Geo Umwelt der Technischen Universität München und Visiting Professor an der Nanyang Technological University in Singapore haben wir anlässlich seines mit der Ankündigung des Ruhestandes im nächsten Jahr durchgeführten Kolloquiums „Verkehrstechnik“ gesprochen. Das komplette Interview finden Sie nachfolgend:
ITS Bavaria: Herr Prof. Busch, Sie waren von Anbeginn der Verkehrstelematik-Ära dabei, die vor gut 25 Jahren begann. Damals standen Projekte zur Anwendung und Erprobung der neuen Technologien im Vordergrund und es lagen bereits sehr innovative Ideen auf dem Tisch. Welche Projekte waren damals wegweisend und welche Ergebnisse gelten auch noch heute?
Busch: Ich würde sogar eher 30 Jahre zurückgehen und das große europäische Forschungsprogramm PROMETHEUS als einen der international bis heute noch präsenten und prägenden Meilensteine der Verkehrstelematik nennen, auch wenn der Begriff Verkehrs-Telematik selbst zu der Zeit noch gar nicht in breiter Verwendung war. PROMETHEUS hat sich im Verbund europäischer Automobil-Industrie und Forschung intensiv mit intelligenten Fahrzeugen, Vernetzung von Fahrzeugen untereinander und mit der Infrastruktur, Systemarchitekturen und Verkehrstechnik für vernetzte Systeme befasst, also topaktuellen Themen zu einer Zeit, als zum Beispiel von Mobilfunk, WLAN oder IoT noch nicht die Rede war und eine codierte Übertragung von Verkehrsmeldungen über UKW per RDS gerade erst angedacht wurde. Das Projekt war derart weitsichtig, dass bis heute Konzepte daraus beispielgebend sind und erst beginnen, ihren Weg in die Praxis zu finden. Ich habe z.B. damals als junger Ingenieur fiktive Berechnungen durchführen dürfen, was denn möglich wäre, wenn man Konvois elektronisch gekoppelter Fahrzeuge auf Autobahnen bilden könnte, die spurgenau und in dichtem Abstand von wenigen Metern mit 80 km/h fahren könnten. Also: Platzgewinn in der Länge und in der Breite, Kapazitätssteigerung, usw., wie funktioniert das Ein- und Auskoppeln in den Konvoi, was ist an Anschlussstellen, usw.? Ich könnte die Studie herausholen, Konvoi durch Platoon ersetzen, einige technische Skizzen anpassen und das Thema wäre aktuell. So gab es zahlreiche Forschungen, von denen die Experten bis heute zehren. Aus diesem wegweisenden Projekt ist bekanntermaßen die europäische DRIVE-Forschungsgeschichte entstanden.
Natürlich haben sich die Treiber der Forschungen im Lauf der Zeit geändert. Damals war es überwiegend die Technologie, die angedacht war oder in den Laboren bereits verfügbar war, aus der heraus neue Systeme oder Lösungen gedacht wurden, eben typische technologiegetriebene Forschung. Heute wird deutlich mehr aus den Zielen heraus gearbeitet, Nachhaltigkeit, Emissionen, Energie, Sicherheit usw. Die Ansätze betrachten vermehrt das Gesamtsystem aus allen Verkehrsträgern und Verkehrsteilnehmern. Der Fußgänger oder Radfahrer war in PROMETHEUS kein prominentes Thema, der Begriff Multimodalität noch nicht existent. Da hat sich also schon sehr vieles in Richtung einer generellen Forschungsagenda entwickelt.
ITS Bavaria: Nach dem Begriff Verkehrstelematik wurde verstärkt der Begriff ITS verwendet, und heute blicken wir auf die Digitalisierung der Mobilität. Nicht nur Begriffe haben sich verändert, sondern auch die Herausforderungen. Ist es uns gelungen, unsere Hausaufgaben zu erledigen und welchen Handlungsbedarf sehen Sie besonders?
Busch: Ich würde sagen, die Hausaufgaben entwickeln sich mit den Herausforderungen weiter und einige zurückliegende Aufgaben sind leider noch nicht ganz erledigt. Ähnlich dem Fortschritt in Schule und Studium wird es aber mit der Zeit nicht nur anders, sondern eher schwieriger und wer die Grundlagen der ersten Jahre nicht beherrscht, tut sich am Ende sehr schwer.
Auf unser Thema übertragen: Wir leben in einer Zeit zunehmender Diversifizierung, die Verkehrssysteme heute sind (oder werden vermehrt) hochgradig vernetzt, man sucht nach ganzheitlichen multimodalen Ansätzen und betrachtet den gesellschaftspolitischen Kontext, in den Verkehrssysteme sich einbinden müssen. Alles sehr zu Recht und eine gute Entwicklung, die aber immer schneller vorangeht und auch von ganz neuen „artfremden“ Stakeholdern aus anderen Bereichen geprägt wird. Denken Sie an Internet-, Telekom- oder Energiekonzerne, die Mobilitätsdienste im Paket mit anderem anbieten, kleine Start-ups, die mit Apps ungefragt Informationen zur Routen- und Verkehrsmittewahl anbieten und damit im Wettbewerb zur Verkehrsleitung der öffentlichen Hand stehen usw. Wenn man in Richtung der aktuellen Entwicklungen beim hochautomatisierten Fahren oder den Fortschritten künstlicher Intelligenz und Dezentralisierung im Verkehrssektor schaut, wird eine zugleich phantastische wie auch beängstigende Zukunftswelt der Mobilität sichtbar. Und hier meine ich, haben wir alle gemeinsam die ersten Jahre der Entwicklungen, sagen wir die PROMETHEUS-Folgejahre, etwas verschlafen oder sind zumindest nicht konsequent genug vorangegangen. Wir leben heute noch in Verkehrssystem-Strukturen aus dem letzten Jahrhundert, die Verkehrsverwaltungen kämpfen an vielen Stellen mühsam darum, den Anschluss an neue Technologien zu wahren oder deren Einsatz überhaupt erst möglich zu machen, weil sie auf veralteten Systemen sitzen, die Gelder für Innovationen und Öffnung der Systeme fehlen und die Zuständigkeiten unklar oder zu starr sind. Das hätte man deutlich schneller erkennen und in besser geordnete Bahnen lenken können. Wenn man sich vorstellt, dass wir 30 Jahre nach PROMETHEUS noch immer über solche grundlegenden Themen wie Systemarchitekturen (ein wichtiges Teilthema schon in diesem Vorhaben) inklusive Aufgabenzuordnungen für vernetzte Verkehrstelematik-Systeme in Städten diskutieren, dann darf man sich nicht wundern, wenn in einigen Jahren die Verkehrssteuerung und Verkehrsinformation von Amazon, Google/Waze und Co. betrieben wird, die autonomen Taxis von Uber, Lyft und Co. unsere Städte bevölkern und wir verzweifelt in Arbeitsgruppen nachdenken, wie man das Geschehen in den Griff bekommen kann.
Also: Hausaufgaben der ersten Semester nicht rechtzeitig gemacht, daher im höheren Semester jetzt Schwierigkeiten.
ITS Bavaria: Heute haben Sie in Ihrem Kolloquium „Verkehrstechnik“, das anlässlich der Ankündigung Ihrer Verabschiedung durchgeführt wurde, Ihr persönliches Projekt „189“, also 189 Monate Professur, vorgetragen. Diese 189 Monate waren ausgefüllt mit den unterschiedlichsten Forschungsvorhaben. Was möchten Sie hiervon noch einmal besonders herausstellen?
Busch: Es waren 189 wunderbare Monate mit wunderbaren Menschen und spannenden Themen, die in ihrer Vielfalt einen kleinen Eindruck von dem anspruchsvollen Spektrum der Verkehrstechnik in einer sich schnell entwickelnden Verkehrsszene vermitteln. Hier etwas singulär herauszuheben, würde anderes abwerten und dem hohen Anspruch, den jedes einzelne Mitglied der Forschungsgemeinschaft meines Lehrstuhls an sich gestellt hat, nicht gerecht werden. Ich habe versucht, in den 189 Monaten zeitgemäße Impulse aus meiner Sicht auf die Entwicklungen und Herausforderungen zu setzen. Diese wurden von intelligenten jungen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen an meinem Lehrstuhl zu bisher bereits über 30 viel zitierten Dissertationen weitergedacht und vertieft. Und es sind ja noch einige da, die mich in den nächsten Jahren fordern werden mit den Ideen zu ihren bisher noch unvollendeten Werken. Letztendlich sind es die Menschen, die sich in ihren Jahren an einer Universität zu Wissenschaftlern und Experten ihres Themas entwickeln, die herauszuheben sind. Und wenn man als Professor und Doktorvater hierzu einen Beitrag liefern konnte, ist es phantastisch.
ITS Bavaria: Vor den 189 Monaten lag eine Zeit, in der Sie in der Privatwirtschaft tätig waren. Sie kennen damit beide Seiten: eine betriebswirtschaftlich und eine wissenschaftlich geprägte Herangehensweise an innovative Themen. Sehen Sie einen gemeinsamen Nenner und was können beide Disziplinen voneinander lernen?
Busch: Ein gemeinsamer Nenner ist leider das Geld. Um Innovationen voranzubringen, braucht es Ressourcen, die kosten Geld. Egal, ob es Geräte, Labore oder Personenmonate sind. In der Wirtschaft unterliegt die Forschung oftmals strategischen und betriebswirtschaftlichen Zwängen, denn das Produktmanagement und der Vertrieb fragen nach Marktpotenzial und die Entwicklungsbudgets sind gedeckelt. In der Wissenschaft ist das zunächst nicht so. Hier ist der Antrieb die Neugier und Kreativität des Forschers, die Innovation schaffen kann und keine Grenzen haben sollte. Die Forschung ist frei heißt es richtigerweise. Je nach wissenschaftlicher Disziplin und Kultur kann das aber auch zum berüchtigten Elfenbeinturm mit Forschung um der Forschung Willen führen. Das Ingenieurwesen ist von dieser Entwicklung weniger bedroht, aber auch hier besteht die Gefahr, dass Erkenntnisse geschaffen werden, die für sich zwar wertvoll sind, aber wenig weitere Verwendung in Anschlussforschung oder direkter Anwendung finden. Dafür sind Überraschungen möglich und viele große Erkenntnisse der Wissenschaft entstanden ja genau aus Zufall und nicht aus gerichteter Forschung. Auf der anderen Seite ist gerade für den Autor einer ingenieurwissenschaftlichen Dissertation sicher eine zusätzliche Motivation, sein Werk später auch in irgendeiner Form in der Realität bewundern zu können.
Was könnte man also gegenseitig lernen: etwas mehr Freiraum für Forschung in der Privatwirtschaft einräumen, denn etwas nicht zweckgebundenes Spielgeld freut die Forschungsabteilungen und etwas Marktbeobachtung schadet auch einem Universitätsinstitut nicht, allein durch das Lesen wissenschaftlicher Papiere kann man die Welt nicht verstehen.
ITS Bavaria: Wer Ihren Weg begleitet hat erkennt schnell, dass Sie für Lessons learned aus dem Ausland sehr offen sind. Sie sind seit einigen Jahren viel in Asien, insbesondere in Singapur, unterwegs. Wie sind Ihre Lessons learned?
Busch: Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Aber der Blick über den Gartenzaun hat noch niemandem geschadet. Speziell in den asiatischen Boom-Märkten mit ihren unglaublich schnellen Entwicklungen und dem riesigen Nachholbedarf gerade auch im Verkehrssektor ist es spannend, zu beobachten, wie man an Themen, die wir bei uns vor Jahrzehnten lösen mussten, heute mit neueren Technologien, anderen gesellschafts- und Politikstrukturen herangeht. Die Aufholjagd – wenn es denn überhaupt noch ein Aufholen und nicht ein Vorauspreschen ist – hat ein hohes Tempo. Singapur ist für mich ein besonderer Fall, da sich dort tatsächlich eine enorme Ballung verschiedenster Forschungskompetenz aus der ganzen Welt findet und unter der sehr zielgerichteten Führung und Förderung der Regierung exzellente Bedingungen für schnelle, innovative Forschung findet. Zugleich ist ein unmittelbarer Nutzen für den Stadtstaat selbst meist eine vorrangige Bedingung der Forschungen. Es gilt die Frage „What’s in it for Singapore?“ und diese Frage bekommen wir häufig gestellt. Das passt zu dem zuvor gerade von mir genannten Thema der zielorientierten Forschung. Singapur ist genau deshalb in vielen Bereichen ein Vorreiter für Innovation und beliebter Standort für Universitäten und Industrie. Natürlich spielt darüber hinaus die Schlüssel- und Vorreiterrolle für Asien eine weitere ganz wesentliche Rolle.
Meine Lesson learned: zielgerichtete fokussierte Forschungsförderung mit kluger, auch strategisch geleiteter Auswahl guter Forschungspartner führt zu schnellen Ergebnissen mit hoher Sichtbarkeit.
ITS Bavaria: Herr Prof. Busch, eine abschließende Frage möchten wir noch stellen, die uns gedanklich wieder zurück in die Heimat bringt: Welches Anliegen zur Verbesserung der Mobilität haben Sie bezogen auf unsere Landeshauptstadt und den umgebenden Großraum, das vordringlich angegangen werden sollte?
Busch: Nichts Neues, man muss es nur konsequenter angehen:
Reduzierung des Straßenverkehrs im Innenraum, zur Not mit radikalen Maßnahmen wie Bewirtschaftung und Straßenrückbau, Verdichtung der ÖPNV-Erschließung, insbesondere kleinräumige Erschließung durch neue ÖPNV-Kleinverteilersysteme, drastische Vereinfachung des Tarifsystems mit Durchgängigkeit über alle Mittel, inklusive Fahrräder durch eine MünchenCard.
Meine Erfahrung aus Singapur: hier ist Platz ein mindestens so knappes Gut wie in München, es wird konsequent auf eine „Car-Lite“-Philosophie hingearbeitet, neue Stadtgebiete werden gezielt und schnell darauf ausgerichtet, es gibt eine Maut im Innenbereich, diese wird in 2 Jahren flächendeckend und mit neuester Technik sein und soll deutlich restriktiver genutzt werden, die Anzahl der zugelassenen Fahrzeuge ist gedeckelt, was in München natürlich nicht geht, aber über drastischere Zufahrtbeschränkungen und Gebühren angenähert werden könnte.
Ich denke, München ist da mittlerweile auf einem ziemlich guten Weg, aber es geht alles deutlich zu langsam und wird durch das enorme Wachstum von Stadt und Region immer wieder vor neue Herausforderungen gestellt. Wir haben hier gute Instrumente wie z.B. die INZELL-Initiative geschaffen, die könnte man gerade in der jetzigen Boomzeit der Region noch viel intensiver nutzen.
Aus egoistischer Sicht würde mich als Bahnpendler freuen, wenn die Verkehrsverbünde Augsburg und München endlich einmal wirklich zusammenwachsen würden. Aus einem Augsburger Vorort an die TUM in München von Tür zu Tür mit Fahrrad-Bus-Bahn-Fahrrad und einer einzigen MobilityCard zu fairem Best-Preis wäre klasse und so etwa meine intermodale Pendlerwegekette.
ITS Bavaria: Herr Prof. Busch, danke für diesen umfassenden Ausblick. Heute im Kolloquium haben Sie auch ausgeführt, dass Sie Ihren Ruhestand noch ein Jahr hinausschieben werden. Wir freuen uns deshalb über ihre Anregungen auch in den nächsten Jahren.